Kraft der scheinbar Schwachen
Benachteiligt und von der Gesellschaft an den Rand geschoben - Überlebensmut und Mitmenschlichkeit helfen Gera. Romanreif ist das Leben von Iris Zillig, der Vereinsvorsitzenden, gelernte Textiltechnikerin, zuletzt Altenpflegerin. 1959 kam sie als ungewolltes Kind auf die Welt. Die Oma nahm sie 1961 mit in den Westen, um sie bei kinderlosen Verwandten aufwachsen zu lassen. Der Plan ging schief. Die Oma wurde als Kindesentführerin festgenommen, Iris von einem Grenzpolizisten ins Dauerheim Weida gebracht. Die Uroma in Crimla nahm sich ihrer am Wochenende liebevoll an. "Im Dorf war ich nur der Bankert", erinnert sich Iris Zillig ihres kuriosen Starts ins Leben. Kinderheim, Vergewaltigung, Jugendwerkhof, Haft in Dessau, verwitwet, Depression, Alkohol, Krankenhaus, Adipositas. "Ich habe alles durch", sagt sie. "Steh auf, du bis noch zu jung, um dich aufzugeben!". Ingrid Trogisch vom Verein Nachbarschaftshilfe habe sie ihren Neustart ins Leben zu verdanken und ihren drei Kindern, jetzt 27, 30 und 32 Jahre alt. "Sie haben mir Halt gegeben, das 6. Enkelkind ist unterwegs." Jetzt hilft Iris Zillig als engagierte Vereinschefin Menschen, denen es körperlich, seelisch und finanziell noch schlechter geht als ihr, der Schwerbehinderten. Auf ihrem Job Rider, dem ersten in Gera, düst sie durch die Stadt, organisiert, koordiniert.
Andrea Kummer (48) ist erwerbsunfähig, mehrfach am Rücken operiert. Man merkt es der resoluten Blonden mit der kräftigen Stimme nicht an. Hinter ihrer Burschikosität verbirgt sich ein gutes Herz. "Die Mutter des Vereins" wird sie genannt. Sie pflegt Iris Zillig und sie hält dem erblindeten Vereinsmitglied Dietmar Kerl die Wohnung sauber. Vor allem aber wühlt sie sich stundenlang und hartnäckig durch seitenlange Anträge auf Rollstühle, auf Rente, auf eine Pflegestufe für andere. Sie kämpft hartnäckig um das Recht ihrer Schützlinge, wenn der Medizinische Dienst zur Begutachtung des Pflegebedürftigen erscheint. Da blafft sie schon mal: "Wir können ja mal die Rollen tauschen!" Sie will vermitteln, "dass die Verwaltungsleute verstehen, wie Menschen sich fühlen, denen nicht geholfen wird."
Sie zählt auf, wie schnell es geht, dass man plötzlich auf der Schattenseite des Lebens steht: "Der Arbeitslosigkeit folgen Armut, Zurückgezogenheit, Kummer, Ängste, Krankheit. Wer dazu noch behindert oder alt ist, braucht doppelte Kraft, sich durchzusetzen."
Obwohl erst 28 Jahre alt, hat Ariane Sonntag, gelernte Hauswirtschafterin, aufgrund ihrer Erkrankung kaum noch Chancen auf Beschäftigung. "Für sie ist unser Verein Familie. Hier wird sie geachtet, kennt man ihre Stärken und Schwächen", sagt Iris Zillig. Ariane erledigt für andere Einkäufe, macht sauber und begleitet Hilfsbedürftige. Eveline und Frank Matthes sind das helfende Ehepaar im Verein. Sie managt als Betreuungsbeauftragte die ehrenamtlichen Dienste. Die umgeschulte Pflegerin, die im Franz-Lenzer -Heim arbeitet und ihre über 80-jährigen Eltern betreut,weiß aus Erfahrung: "Menschen mit Behinderung haben es am schwersten, für sie bin ich gerne da." Ehemann Frank, Schlosser, Grünanlagenpfleger, Mobillotse, nun arbeitslos geworden, hilft bei Umzügen. Völlig auf die Hilfe anderer angewiesen ist Vereinsmitglied Roland Penz. Der 58-Jährige, von Kindheit an spastisch gelähmt, geriet mit fortschreitendem Alter, der Progressivität seiner Behinderung immer mehr ins berufliche und gesellschaftliche Abseits. Schlosser gelernt, in der geschützten Werkstatt tätig, dann Wachmann, jetzt im Rollstuhl, bekam wirksame Vereinshilfe nach dem Tod der Mutter. "Viel zu klein war das Bad seiner Langenberger Wohnung für den Rollstuhl, wo er nicht mal wenden konnte", stellte die resolute Andrea fest. Eine Sozialarbeiterin hatte ihn an den Verein vermittelt. "Seit 25. Februar wohne ich in Lusan zu ebener Erde in einer 54 Quadratmeter großen Wohnung, wo ich Samba tanzen könnte!", ist Roland Penz glücklich. Wenn der Kühlschrank leckt, er mit dem Rollstuhl noch seine Schwierigkeiten hat ein Anruf genügt, jemand vom Verein kommt und schaut sich die Sache an, "Ich bin so froh darüber, fühle mich nicht mehr allein", sagt er.
Der Verein, zurzeit 21 Mitglieder und Klienten stark, betreut sechs Bedürftige. Am 1. August wollen die ehrenamtlichen Helfer für Behinderte neue Vereinsräume in der Rudolstädter Straße 7 in Lusan beziehen. Fußboden, Sanitäranlagen, Möbel sind nötig. Die Farbe kommt von der Gewo, ein behindertengerechter Toilettensitz vom stets hilfsbereiten Sanitätshaus Carqueville. Verstärkung wäre gut, meinen die Vereinsmitglieder. "Mitmachen kann bei uns jeder, Hauptsache, er hat sich Menschlichkeit bewahrt und besitzt Achtung vor Behinderten", beschreibt Iris Zillig die Eintrittskarte in den Verein.